Rolandslied und Chanson de Geste: Spiegel nationaler Geschichte

Rolandslied und Chanson de Geste: Spiegel nationaler Geschichte
Rolandslied und Chanson de Geste: Spiegel nationaler Geschichte
 
Als Karl der Großebedeutende zeitgenössische Gelehrte an seinen Hof holte, als er den Abt Baugulf in Fulda Ende des achten Jahrhunderts auf die Bedeutsamkeit der klassischen Bildung hinwies, stand es um die Lateinkenntnisse in seinem Reich schon längst nicht mehr gut. Nicht allein die Laien, auch viele Geistliche beherrschten die Grammatik der Sprache Roms nur noch unvollkommen. Die romanische Volkssprache, die sich seit der Eroberung Galliens durch Caesar in jahrhundertelangen Prozessen aus dem Lateinischen herausgeschält hatte, diente zunehmend als tägliches Kommunikationsmittel. Grammatisch nicht fixiert und schriftlos, setzte sie sich immer stärker gegenüber dem Lateinischen durch. Die ersten Schritte dazu sind behutsam: 813 räumt das Konzil von Tours ein, dass schon viele Gläubige lateinische Predigten nicht mehr verstehen, die Geistlichen sollen ihre Textauslegungen daher von nun an in der romanischen (und deutschen) Volkssprache vornehmen. Als ältestes Dokument in französischer Sprache gelten die Straßburger Eide.
 
878 wurden die Reliquien der heiligen Eulalia aus Mérida ins Reich der Westfranken überführt. Auf diesem Ereignis und einer bis ins vierte Jahrhundert zurückreichenden literarischen Tradition beruht das kleine Preislied über das Martyrium der Spanierin, mit dem die Geschichte der französischen Literatur beginnt: Die um 880 irgendwo zwischen Lüttich und Aachen entstandene »Eulaliasequenz«. Sie entwirft auf engstem Raum in Anlehnung an die Struktur einer Heiligenlegende Leben, Leiden, Tod und Wunderwirkung Eulalias, die ihrem Glauben trotz heidnischer Drohungen treu geblieben war und deswegen enthauptet wurde.
 
Dieser 1837 von Hoffmann von Fallersleben in der Bibliothek von Valenciennes wieder entdeckte Text markiert deutlich zwei wesentliche Faktoren bei der Herausbildung einer nationalsprachlichen Literatur in Frankreich. Erstens ist er sprachlich noch stark vom Lateinischen geprägt, und zweitens ist sein Inhalt geistlicher Natur. Die Kirche in ihrem Selbstverständnis als eigentliche Wahrerin der Schriftlichkeit gibt also den formalen und inhaltlichen Rahmen der literarischen Rede vor. Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstand mit dem auf mittellateinischen Vorlagen beruhenden »Leben des heiligen Alexius« ein Werk, das sich aufgrund bewusster rhetorischer Konzeption und Schlüssigkeit der Handlungsabläufe deutlich von den voraufgegangenen volkssprachlichen Texten abhob und damit zugleich den formalen Zwängen der Liturgie entzog.
 
Das Selbstbewusstsein der Volkssprache, das sich hier manifestiert, drückt sich noch ungleich eindrucksvoller in einem neuen Genre aus: den Chansons de geste, mit einfacher musikalischer Begleitung vorgetragene Lieder von Kriegstaten (lateinisch »gesta«), zunächst um Gestalten aus der westfränkisch-französischen Geschichte, bald vielfach verzweigtes Erzählwerk um historische oder fiktive Aristokraten mit ihren Größen und Schwächen, die sich für einen Souverän einsetzen oder sich gegen ihn empören. Es handelt sich um Adlige, die, das christliche Himmelreich vor Augen, den Heiden im Heiligen Land die Hölle auf Erden bereiten, aber sich auch im Kampf gegeneinander aufreiben. Eine Gattung, die ebenso aus dem Bedürfnis der Feudalgesellschaft nach heroischen Identifikationsfiguren entstand wie aus jener Kreuzzugsmentalität, die durch die Idee des Kirchenvaters Augustinusvom »gerechten Krieg« ihre theoretische Rechtfertigung erfuhr; ein Genre, das nach zeitgenössischer Vorstellung vorbildliche Verhaltensweisen demonstrieren und eigene durch die Darstellung fremder Leiden erträglicher machen, aber auch nach getaner Arbeit entspannen und unterhalten sollte.
 
Über die Entstehung dieser Gattung hat man vom Beginn des 19. bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts höchst kontrovers diskutiert. Während einerseits entschieden der Vorrang der mündlichen vor der schriftlichen Überlieferung betont wurde, setzte man andererseits ebenso entschlossen auf die Überlegenheit der schriftlichen vor der mündlichen Tradition. Kleinere Preislieder auf aktuelle historische Ereignisse seien über Jahrhunderte hin anonym in stets anderen Fassungen mündlich weitergegeben worden, bevor sie zu den uns bekannten Chansons de geste verschmolzen wurden, sagten die »Traditionalisten«, während die »Individualisten« von einem hochgebildeten und genialen Einzelautor ausgingen, der den neuen nationalen Stoffen zeitlose poetische Form gab.
 
Eine Klerikernotiz aus dem nordspanischen Kloster San Millán de la Cogolla machte 1953 all diesen Spekulationen ein Ende. Ein dreißig Jahre vor dem uns bekannten »Rolandslied« entstandener Text hält nämlich alle wesentlichen Inhalte des Epos in holprigem, volkssprachlich beeinflusstem Latein fest. Der Schreiber hat uns damit den Beleg geliefert, dass vor der bis dahin bekannten ersten Version des altfranzösischen »Rolandsliedes« die geschilderten Ereignisse - offensichtlich grenzüberschreitend - weitererzählt wurden, ohne dass man diese mündlich tradierten Fassungen zunächst schriftlich fixierte. Nur durch den Zufall der Überlieferung sind sie in verschiedenen Fassungen auch schriftlich erhalten.
 
Nun war dies gewiss auch ein Stoff, der bei seinem öffentlichen Vortrag durch die Spielleute mit größter Aufmerksamkeit rechnen konnte: Roland, der Neffe Karls des Großen, wird als Führer der Nachhut des fränkischen Heeres von seinem Stiefvater Ganelon an die Heiden verraten und fällt in Roncesvalles. Karl der Große aber stellt die göttlich bestimmte Ordnung wieder her. Er besiegt den als Antichristen gezeichneten Heidenkönig Baligant und lässt den Verräter Ganelon in Aachen grausam hinrichten. Am Ende des Epos erhält er durch den Erzengel Gabriel den Auftrag, in einen neuen Krieg gegen die Heiden zu ziehen. Der Text, der mit eindringlicher Schlichtheit den Gegensatz zwischen Gut und Böse inszeniert, befriedigt mit Dialogen, Kampf- und malerischen Ortsschilderungen Unterhaltungsbedürfnis und Neugier der Zuhörer, mit Traum- und Visionsberichten, mit Gebeten und ethischen Handlungsanweisungen deren Suche nach Erbauung und geistlicher Unterweisung. Seine Nachfolger konnten diese schlichte Größe nicht mehr erreichen.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearbeitet von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Frank-Rutger Hausmann: Französisches Mittelalter. Stuttgart u. a. 1996.
 
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 7: Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1978—85.

Universal-Lexikon. 2012.

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